Die Welt ohne Finanzkrise – ein Gedankenexperiment

Von Dr. Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank

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10 Jahre Lehman-Pleite, 10 Jahre Finanzkrise. Dieses Jubiläum wurde allerdings kaum gefeiert. Stattdessen fand in der Öffentlichkeit nochmals eine Aufarbeitung einer der größten Finanzkrisen der vergangenen hundert Jahre statt. Für diese steht vor allem der Zusammenbruch einer der größten Investmentbanken der USA als Schreckenssymbol. Gefühlt hat damit ein Jahrzehnt begonnen, das aus den Krisen gar nicht mehr herauskam. Die Symptome der Anspannung reichen vom Fast-Zusammenbruch des Euro bedingt durch die Griechenland-Turbulenzen, über eine fast schon unwirklich anmutende Nullzinswelt bis hin zu den politischen Radikalschnitten wie Brexit oder Trump.

Was wäre wenn…

Angesichts der Tragweite der Ereignisse ist es ein gewagtes Gedankenexperiment, sich zu überlegen, was in einer Welt ohne Finanzkrise alles geschehen oder nicht geschehen wäre. Der eingeschlagene Wachstumsweg wäre ohne den Ausbruch der Krise wohl einfach weitergegangen. Die USA hätten heute eine um fast 12 Prozent höhere Wirtschaftsleistung. Das entspricht etwa 2,1 Billionen US-Dollar pro Jahr. Für die europäischen Volkswirtschaften ist dieser Effekt noch größer, denn in Euroland sorgte die Griechenland-Krise für einen zweiten konjunkturellen Schwächeanfall, der ohne die Finanzkrise zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt stattgefunden hätte. Euroland insgesamt hätte demnach heute ein um 14 Prozent höheres Bruttoinlandsprodukt (BIP). Eines muss dabei aber beachtet werden: Hätte es keine Finanzkrise gegeben, wäre wohl auch die Ursache einer überbordenden Kreditvergabe nicht zutage getreten. Genau diese Kreditübertreibungen wirkten allerdings in den Jahren vor der Krise für viele Volkswirtschaften als Wachstumsturbo.

Wie sieht’s mit den verschuldeten Ländern aus?

Während sich in den Industrieländern von 2007 bis 2017 die Staatsverschuldung weltweit von 71 auf 104 Prozent in Relation zum BIP erhöhte, waren an der Schuldenausweitung auch die Schwellenländer beteiligt. Hier fand eine Steigerung der Schuldenquote von durchschnittlich 36 auf 49 Prozent statt. Rechnet man die Staatsdefizite der Jahre nach der Finanzkrise auf die zu Beginn bestehenden durchschnittlichen Defizitzahlen herunter, so gelangt man zu dem Ergebnis, dass die Schuldenquote der USA heute um etwa 40 Prozentpunkte niedriger wäre (64 statt 105 Prozent). Spanien hingegen wäre sogar um mehr als 60 Prozentpunkte des eigenen BIPs weniger verschuldet. Anders Deutschland: Hier gelang es, die durch die zusätzliche Verschuldung bedingte Schuldenquote bereits wieder abzubauen.

Und Griechenland?

Ob es das griechische Finanzdrama auch ohne die Krise gegeben hätte? Das kann wohl am besten so beantwortet werden: nicht zum gleichen Zeitpunkt und nicht in der gleichen Weise. Denn auch ohne Schuldenkrise wäre die Staatsverschuldung des Landes mit 103 Prozent (gemessen am BIP) im Jahr 2007 bereits zu hoch gewesen. Hier vermischen sich die Ursachen der globalen Finanzkrise mit Fehlentwicklungen innerhalb der Europäischen Währungsunion.

Dann kam der Nullzins

Bleibt die Existenzfrage der Sparer, die Frage nach dem Zinsniveau. Die Geldpolitik hat noch energischer auf die Krise reagiert als die Finanzpolitik. Am schnellsten, nämlich schon im Jahr 2009, war die US-amerikanische Notenbank beim Nullzinsniveau angelangt. Die Europäische Zentralbank benötigte bis 2014, bevor sie den Refisatz auf null und den Einlagensatz der Banken sogar in negatives Terrain setzte.

Fazit

Insgesamt erscheint die Finanzkrise in einigen Punkten als Beschleuniger von bereits vorhandenen Trends. Selbst wenn viele der problematischen Entwicklungen in Wirtschaft und Gesellschaft auch ohne Finanzkrise eingetreten wären, war diese jedoch keineswegs bedeutungslos. Die Folgen des Beinahe-Kollapses des Finanzsystems verursachten tiefe Einschnitte in das ökonomische Schicksal vieler Menschen. Alle Instanzen sollten also besser weiter daran arbeiten, dass sich ein solches Ereignis nicht wiederholt.

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